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In einer Zeit des Wandels ist es schwierig, die Richtung zu erkennen. Unsere Situation ist vergleichbar mit einem Schiff auf hoher See. Wir sind unsicher, ob unser Schiff hochseetauglich ist. In den tobenden Fluten den Kurs zu halten, ist keine leichte Aufgabe. Die Naturgewalten machen uns mit jeder Welle und mit jedem Windstoß klar, dass unser Schiff nur ein Spielball der Elemente ist. Herausforderungen mit dem Potenzial zur echten Tragödien zeigen sich in allen Aspekten des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und privaten Lebens.

Wie schön wäre es, wenn wir irgendwie Orientierung gewinnen könnten. In Kleinasien gab es zur Zeit der Ilias eine solche Möglichkeit. Kassandra war Seherin und hatte die Gabe der Weissagung. Kassandras Fähigkeit war zunächst einmal eine besondere Auffassungsgabe. Ihre Sinne waren stark ausgeprägt und sie war immer hellwach. Nichts entging ihrer Beobachtung und Sie verstand es meisterhaft, hinter die Kulissen des hektischen Lebens in Troja zu schauen. Bei Ihren Spaziergängen atmete sie das geschäftige Treiben der Stadt ein. Sie erkannte, dass in der Stadt viele glückliche Familien lebten, die einen kleinen Wohlstand aufgebaut hatten. Sie sah, dass auf dem Land war die Arbeit sehr hart war, aber der fruchtige Boden und die endlos erscheinenden Weiden gaben Raum für genügend Vieh, und ließen keine Angst vor Hunger aufkommen.
Kassandra spürte eine große Zufriedenheit mit dem Herrscher Priamos, ihrem Vater. Er hatte durch geschickte Politik, aber auch durch kleinere Feldzüge den Einflussbereich der Trojaner ausgebaut. Der Handel am Ein- bzw. Ausgang zum Marmarer Meer, dem Zuwege zum schwarzen Meer blühte. Immer mehr Kaufleute kamen aus immer ferneren Gebieten. Es gab eigentlich nichts, was es nicht gab. Troja war mächtig und kampfstark und bestätigte seine herausragende Stellung immer wieder mit kleinen Angriffen auch auf griechische Territorien. Priamos hegte einen ausgesprochenen Machtanspruch und es schien, als könnte sich niemand seinem hegemonialen Anspruch widersetzen. Und doch hatte Kassandra ein ungutes Gefühl. Als Weissagerin spürte sie, dass diese Blüte des Staates gefährdet war. Es konnte ja nicht immer so weiter gehen. Insbesondere die Scharmützel mit den Griechen, hatten schon zu einigen geopolitischen Irritationen geführt. Die Reisenden aus dem fernen Mykene wußten zu berichten, dass Agamemnon die Ausnahmestellung von Troja sehr argwöhnisch betrachtete. Er selber war absolut machtbesessen und wollte die Vormachtstellung von Troja nicht einfach anerkennen. Die Situation war zunehmend angespannt. Auch wenn die Griechen nicht über ein großes und geschlossenes Königreich und Heer verfügten, konnte sich die politisch Weltlage schnell verändern. Kassandras Weissagungen mahnten daher zur Vorsicht. Klare Prognosen auf die gesamte Entwicklung wußte sie aber wohl zu vermeiden, die Lage war einfach noch zu unübersichtlich.

In der heutigen Zeit stehen uns Seher mit göttlichen Fähigkeiten nicht mehr zur Verfügung. Wobei die Götter ja eigentlich unsterblich sind und irgendwo zu finden sein müssten. Aber wir suchen heute nicht mehr nach mythischen Weissagungen, sondern nach wissenschaftlicher Erkenntnis. Die Rolle des Orakels übernehmen in der modernen Welt Wissenschaftler und Zukunftsforscher.
Wenn Wissenschaftler über die Herausforderungen für das Management sprechen, greifen sie durchgängig auf die sogenannte VUCA-Welt zurück. Dieses Akronym ist Ende der 80er Jahre entstanden und beschreibt eine unvorhersehbare Zukunft. Die Behauptung der Wissenschaft besteht also darin, dass das Umfeld des modernen Managements eigentlich nicht planbar ist. Wichtige Entwicklungen lassen sich nicht so einfach vorhersagen. Die Buchstaben VUCA stehen für:

  • volatility ‚Volatilität‘ (Unbeständigkeit)
  • uncertainty ‚Unsicherheit‘,
  • complexity ‚Komplexität‘ und
  • ambiguity ‚Mehrdeutigkeit‘.

In der Zeit als der Ausdruck geprägt wurde, also vor mehr als 30 Jahren, galt es, eine neue multilaterale Welt nach dem Ende des kalten Krieges zu beschreiben. Eine neue Weltordnung zeichnete sich nun wahrlich nicht gleich ab. Den Militärs war mit dem Ende der Blockbildung nicht mehr klar, wer eigentlich der Feind ist. In dieser bemitleidenswerten Phase der totalen Orientierungslosigkeit galt es wohl, besondere Vorsicht walten zu lassen. Das militärische Achtsamkeitsprinzip machte es notwendig, eine besondere Skepsis gegenüber der gesamten Welt und auch gegenüber der unsicheren Zukunft zu entfalten. Es schien eben besser, immer auf der Hut zu sein.

Die Bedrohungen der VUCA-Welt sind nach wie vor in aller Munde. Heute sind es nicht mehr geopolitische Aspekte, die die Zukunft so ungewiss erscheinen lassen. An deren Stelle sind Transformation und Disruption getreten, aber volatil bleibt die Zukunft schon. Das Narrativ ist eben so stark, dass es bei jeder Veränderung her halten muss. Oder anders herum, nach wie vor bestätigt jede, also wirklich jede neue Entwicklung die Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit der Welt. Als Narrativ werden ja Erzählungen und Aussagen verstanden (fn), die einen dominanten Einfluß darauf haben, wie wir die Umwelt wahrnehmen. Diesen Einfluss auf die Einschätzung des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und persönlichen Umfeldes ist den Promotoren der VUCA-Welt hervorragend gelungen. Nur die allerwenigsten Experten zweifeln ernsthaft an der ebenso veralteten wie pessimistischen Weltsicht.

Aber wie konnte sich diese Weltsicht eigentlich durchsetzen? Erinnern wir uns nur an die bemitleidenswerte Kassandra, deren Rufe nicht ernst genommen wurden. Was könnte die Seherin von damals aus der Moderne lernen?

Im Grunde ist es eine kooperative Verschwörung, die den Einfluß der VUCA Welt so gewaltig werden ließ. Die modernen Weisen, sind ja der wissenschaftlichen Arbeitsweise verpflichtet. Mythen und unklare Aussagen sind nicht der Kern der Wissenschaft, sondern deren Feinde. Es ist notwendige Bedingung wissenschaftlichen Arbeitens, durch umfangreiche Recherchen ausfindig zu machen, wer sich schon zu einem Thema geäußert hat. Die hinreichende Bedingung besteht dann darin, diese Gedanken mit entsprechenden Quellenangaben zu versehen. So ist es wissenschaftlich notwendig, die VUCA-Welt aus der Recherche zu kennen. Da die Wissenschaft auf Fakten beruht, hat die Zukunft mit ihrer Unsicherheit immer einen schweren Stand. Die Zukunft ist schwer vorhersehbar und noch viel weniger quantifizierter. Da aber die Mathematik eine wichtige Grundlage der wissenschaftlichen Erkenntnis ist, besteht hier ein wissenschaftliches Problem. Da ist es naheliegend, die Berechenbarkeit der Zukunft insgesamt zu verneinen. Die VUCA-Welt wird nicht als wissenschaftliche Erkenntnis, wohl aber als unumstößliche Grundannahme übernommen, und natürlich mit einer Fußnote versehen. In der Folge hat sich diese besonders griffige Beschreibung der Umfeldfaktoren durch praktisch alle wissenschaftlichen Arbeiten verbreitet. Dazu kommen solche Autoren, die sich durch einen wissenschaftlichen Anstrich besonderes Gehör verschaffen wollen. Das Narrativ ist eine Gemeinschaftsleistung. Seine Bedeutung hat es allein durch eine permanente Wiederholung erlangt. So wie Werbung eben auch wirkt. Kassandra hatte damals wohl das Pech, dass es niemanden gab, der sie zitiert hatte. Die große Anerkennung und die breite Wirkung der Vorhersagen blieb ihr so verwehrt. Trotz ihrer richtigen Einschätzungen der Lage konnten ihre Rufe nicht zur allgemeingültigen Wahrheit aufsteigen.

Die Gelehrten der Urzeit kannten das Narrativ noch nicht. Das Wort wurde erst in den 90 Jahren in den Sozialwissenschaften geprägt. Damals erzählte man Geschichten, die die wesentlichen Werte und Emotionen eines Kulturraumes oder Nationalstaates aufnahmen und prägten. Die Ilias ist das Urwerk einer solchen schriftlich festgehaltenen Geschichte. Sie ist nicht einfach eine Erzählung, sondern vermischt reale Gestalten mit mythischen Gegebenheiten und einer undurchschaubaren Götterwelt. Sie ist aber zweifelsohne die Grundlage des gesamten westlichen Kulturkreises und die feste Basis für das klassische Griechenland.

Die Ilias ist eine Heldengeschichte. Trotz aller Herausforderungen für die einzelnen Charaktere und einem 10 jährigen Kriegsleiden an der Küste vor Troja vermittelt sie positive Botschaften. Das Ziel, die Stadt zu erobern, wurde letztendlich erreicht. Die Zukunft ist nicht nur düster und man kann durch eigenes Handeln, in diesem Fall durch die List des Odysseus, den Ausgang des Geschehens selber in die Hand nehmen.

Das ist in der VUCA-Welt anders. Selbst bei den Erfindern des Begriffes bestand nie ein Zweifel, dass die VUCA-Welt eine negative und dunkle Konnotation hat.(fn) Die Geschichtenerzähler der Neuzeit haben aber mit ihrer negativen Zukunftsprognose ganze Arbeit geleistet. Eine Studie des Rheingold-Institutes aus dem Jahre 2021 beschreibt die aktuelle Stimmungslage in Deutschland ganz exzellent. Danach sehen 59 % der Deutschen die Zukunft gar nicht, oder eher nicht optimistisch.(fn) Der Grundtenor unserer Gesellschaft ist also überwiegend pessimistisch. Wir schauen ängstlich in die Zukunft und erwarten täglich die nächste Tragödie, wie auch immer sie denn heißen mag. Offensichtlich stehen wir nicht vor dem Antritt einer Heldenreise.

In Troja war die Lösung der negativen Zukunftsprognosen ganz einfach. Kassandra wurde von Apollon verdammt, dass Ihre Verheißungen kein Gehör finden. Dabei hatte Sie ja recht. Der Angriff der Griechen kam tatsächlich und der Untergang von Troja hat sich wahrhaftig ereignet. Den Weissagungen nicht zu folgen, war aber auch eine durch und durch logische Geschichte. Denkt man das Thema mythischer Weissagung oder wissenschaftlicher Prognose zu Ende, gibt es gar keine Alternative zum Stummschalten der Seher, oder Zukunftsforscher. Wenn das Schicksal Trojas vorgezeichnet, unabwendbar und von göttlicher Herkunft war, dann konnte das eigene Handeln dieses Schicksal niemals aufhalten. Also würde es auch keinen Sinn machen, Energien auf die Vermeidung der Tragödie zu verschwenden. Ohne Kampf nun wiederum, erfüllt sich aber die Prophezeiung des Unterganges von alleine. Es ergibt sich also das, was wir heute eine „Self-fulfilling prophecy“ nennen. Ein klassischer Zirkelschluss also.

Erst mit dem Glauben an die eigenen Fähigkeiten und der festen Überzeugung, dass man die Zukunft beeinflussen kann, ändert sich die Entscheidungssituation. Dazu musste man aber in jedem Fall die negativen Zukunftsprognosen zur Seite legen. In dem Moment, wo man sich gegen das Unvermeidliche auflehnt, sich einer bedrohlichen Entwicklung stellt, wird sich die Geschichte auch verändern. Man bringt die ganze Kraft und Kreativität ein, um das Unvermeidliche nicht geschehen zu lassen. Der Erfolg der Anstrengungen kann größer oder kleiner sein, aber in jedem Fall wird sich etwas verändern. Es ist doch kein Zufall, dass Troja sich ganze 10 Jahre gegen die Angreifer erwehren konnte. Am Ende glaubten die Trojer sogar den Sieg verzeichnen zu können. Die Griechen hatten die Küste verlassen. Sie hatten offensichtlich aufgegeben. Der lange Kampf hatte sich gelohnt. Die Griechen waren verschwunden, bis auf ein Pferd.

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