Buchauszug “Klare Führung” Teil II: Megatrends
Eine besondere Anforderungen an die Führung in der heutigen Zeit ist die ausufernde Meinungsvielfalt. In der Gesellschaft wie in den Unternehmen ist es wie im Fußballstadion: Die Anzahl der selbsternannten Trainer ist ungefähr so groß wie die Anzahl der Zuschauer. Es herrscht eine Kultur, bei der jeder zu jedem Thema eine „klare Meinung“ hat und diese auch artikuliert.
Nun ist es keinesfalls falsch, eine eigene Meinung zu haben. Ganz im Gegenteil: Auf der Suche nach Fortschritt kann man mit Duckmäusern und Unentschiedenen wenig gewinnen. Wenn aber zu viele unreflektierte Meinungen ernst genommen und bei gesellschaftlichen Entscheidungen Berücksichtigung finden sollen, dann ist nichts gewonnen. Hier stoßen wir dann auf die negativen Auswüchse von Meinungsvielfalt. Die positiv zu bewertende Meinungsvielfalt verkommt zu einer Meinungsinflation. Die so allgegenwärtige vordergründige Meinung sollte in einer Wissensgesellschaft durch ein vertieftes Wissen um die Sache ersetzt werden. Unser Zeitgeist hat aber noch die Verbreitung von Meinungen vor die Verbreitung von Wissen gestellt.
Die Meinungsvielfalt ist kein neues Phänomen. Für die Führung lassen sich aus den philosophischen Überlegungen des Parmenides interessante Erkenntnisse ableiten. Ist die Meinungsvielfalt groß, mangelt es an Wissen. Ist nicht auch ein Bestandteil unserer gesellschaftlichen Komplexität die Vielfalt an Meinungen? Man kann sicher behaupten, dass ein besseres Verständnis für die Sache die Komplexität senken kann.
Eine schnelle Meinung zu einem Thema hat tatsächlich auch einen Effekt der Reduktion von Komplexität, zumindest für den Meinungsgeber. Die starke Vereinfachung von verwickelten Ausgangssituationen und verworrenen Zusammenhänge wird durch Nichthinschauen oder sogar Wegschauen deutliche vereinfacht. Für den Einzelnen wird durch den Verzicht auf eine dem Logos unterworfene Betrachtung die Komplexität besiegt. Stammtischpolitik ist einfach, sowohl in Bezug auf die plakativen Aussagen als auch in Bezug auf die intellektuelle Bearbeitung des Themas. Aber ist das der Anspruch unserer Gesellschaft oder besser unserer Wissensgesellschaft ? Sicher nicht.
Doch woher kommen nun eigentlich die vielen verschiedenen Meinungen? Eine erste Antwort finden wir in unserem Zeitgeist. Es gab Zeiten, in denen unsere Ausbildungsgrundsätze die Diskussionskultur über die strenge Vermittlung von Wissen gestellt haben. Der Diskurs war die bevorzugte Methode gegenüber dem unkritischen Lernen von Inhalten. Es wurde der kritische Schüler, Student und Bürger gefördert, der auch ohne angelerntes Wissen durch sinnvolle Nutzung seiner intellektuellen Fähigkeiten zu tieferer Einsicht bei gesellschaftlichen Fragen kommen wollte. Gepaart mit einer starken Ablehnung von Macht und staatlicher Autorität wurde eine Gleichberechtigung der Rechte und Ansichten verschiedener gesellschaftlicher Gruppen und jedes einzelnen Bürgers gefordert. Entsprechend unseres demokratischen Verständnisses sind unterschiedliche Meinungen zunächst einmal tatsächlich gleichberechtigt. Wenn aber alle Meinungen unabhängig vom Wahrheitsgehalt oder einem Grundverständnis des Sachverhaltes gleichberechtigt sind, dann ist es nicht „ökonomisch“, sich die Mühe eines tieferen Verständnisses zu machen. Die Devise lautet dann: Einfach mitreden und die eigene Meinung mit sprachlichem Geschick und Vehemenz vortragen. Hand aufs Herz: Wir erleben diese Situation bei der Auseinandersetzung mit wichtigen gesellschaftlichen Themen jeden Tag. Diese Zusammenhänge stellen übrigens nicht die Demokratie in Frage wohl aber unseren Umgang mit Wissen.
Neben der fehlenden Reflexion von Themen gibt es eine weitere wesentliche Ursache für eine Meinungsinflation. Die zunehmende Spezialisierung. Es herrscht die Meinung vor, dass die gesellschaftliche und wirtschaftliche Komplexität zunimmt. Eine Lösung auf die wahrgenommene Komplexität zu reagieren, ist eine parallele Ausweitung der Spezialisierung. Um der Komplexität gerecht zu werden, muss nach landläufiger Meinung auch die Spezialisierung zunehmen. An praktisch jeder Stelle werden detaillierte Kenntnisse gefordert. Und so werden eben auch Führungsfragen, die grundsätzlich ein höheres Abstraktionsniveau und einen allgemeineren Charakter haben, aus der Brille der zahllosen Spezialisten unterschiedlich beurteilt. Die Spezialisierung ist vordergründig eine geeignete Maßnahme zum Umgang mit Komplexität, diesen Effekt erreicht sie aber durch die Ausschnittbildung. Jeder Fachmann nimmt aus der sicheren Position seiner subjektiven Perspektive seine Wertungen vor. Daher ist die Anzahl der Meinungen genau so groß wie die Anzahl der Spezialisten. Im Ergebnis wird die Komplexität nicht besiegt, sondern allenfalls abgebildet. Die grundlegenden Herausforderungen auf der Ursacheneben werden in Probleme oder gar Symptome zergliedert, womit aber die Komplexität weiter zunimmt. Die Argumentation der Spezialisten erfolgt dann auf der Problem- oder schlimmer noch auf der Symptom-Ebene. Auf dieser falschen Diskussionsebene sind die Dinge komplex, sie wurden aber auch nicht durchdrungen. Eine Meinungsinflation ist Ergebnis der Ausschnittbildung. Die Gefahr der Spezialisierung ist die Zunahme der Meinungsvielfalt. In dem Maße, in dem die Spezialisierung steigt, nimmt zwangsläufig die Anzahl gleichberechtigter Meinungen zu. Die Spezialisierung ist eine nicht weiter hinterfragte Selbstverständlichkeit oder auch Mythos unserer modernen Gesellschaft und daher ist auch die Gleichgewichtung verschiedener Aspekte aus unterschiedlichen Blickwinkeln anerkannt. Das bedeutet aber doch auch, wenn es jemanden gelingt, als Spezialist anerkannt zu werden, hat er sich gleichzeitig das Recht erworben, im Kreise mit anderen gleichberechtigt seine Meinung vortragen und vertreten zu dürfen.
Das schlimme daran ist, dass Spezialisierung „Insellösungen“ hervorruft. Denn wenn man seine Legitimation zur Einbringung der eigenen Meinung der Notwendigkeit der Spezialisierung verdankt, dann wird man zu jeder Zeit nachwiesen, dass eine immer weitere Notwendigkeit der Spezialisierung besteht. Und das bedeutet dann immer auch Abgrenzung. Niemand ist mehr wirklich an der Suche nach dem gemeinsamen Nenner interessiert von dem aus die Spezialisierung beginnt. Die Abkehr von der Spezialisierung birgt für den Einzelnen das Risiko des Kompetenzverlustes. Wer aus der sicheren Ecke des eingeschränkten Blickfeldes heraustritt, setzt sich dem Risiko aus, sein Recht der freien Meinungsäußerung mit dem Anspruch der gleichberechtigten Berücksichtigung zu verlieren. Nun wird niemand ernsthaft die Notwendigkeit einer Arbeitsteilung bestreiten. Sicher haben wir in unserer Gesellschaft sehr ausgeklügelte Formen der Koordination, um Schnittstellenprobleme zu lösen. Die Nachteile der Arbeitsteiligkeit sollen durch Informationspflichten, Sitzungen, Gremien und informelle Kommunikationswege ausgeschaltet werden. Aber wenn zu viele verschiedene aus den Blickwinkeln der Spezialisierung vorgetragene Meinungen zu berücksichtigen sind, dann wird die Entscheidungsfindung nicht erleichtert. Die zunehmende Arbeitsteilung findet ihr Spiegelbild in einer zunehmenden Komplexität der Koordinationsmechanismen. Im Ergebnis bleibt es jedoch dabei, dass zu viele Meinungen zu berücksichtigen sind, die nicht zu einer grundsätzlichen Lösung des Problems beitragen. Die Koordination dieser Teilaspekte nimmt immer mehr Zeit in Anspruch. Das erleben wir jeden Tag in der Politik und in der Auseinandersetzung mit wichtigen gesellschaftlichen Themen. Die ausufernde Meinungsvielfalt steht aufgrund der mit ihr verbundenen Komplexität dem Fortkommen in einer Sache bzw. dem Fortschritt entgegen.
Die eigene Meinung verbindet sich immer auch mit einem offenen oder verdeckten Anspruchsdenken. Eine ausufernde Meinungsvielfalt läßt sich mit einem übertriebenen Anspruchsdenken verbinden. Die eigene Perspektive wird nämlich mit der Forderung verknüpft, dass genau die eigene Sichtweise von besonderer Bedeutung ist. Und natürlich werden andere Meinungen schon aufgrund des – aus der Sicht der Spezialisierung – falschen Ansatzes der übrigen Mitsprechenden gerne abgewertet. Sehr schnell kann man kein Verständnis mehr für andere Positionen aufbringen. Immerhin werden ja die anderen Meinungen ohne die Kenntnis der vertieften Einblicke in das eigene Fachgebiet abgeleitet. So ist der Konflikt dann sozusagen vorprogrammiert. Jeder, der von einem einzelnen und vielleicht auch noch so unwichtigen Aspekt einer wichtigen Entscheidung tangiert wird, möchte seine Perspektive in die Diskussion einbringen. Das Anspruchsdenken besteht nun darin, dass die Teilaspekte nicht nur vorgetragen werden, sondern deren Vertreter auch mitentscheiden wollen. Es gibt keine hierarchische Ordnung von Wissen. Alle Aspekte sind vermeintlich gleichberechtigt und damit auch an der Entscheidung zu beteiligen. Jeder verteidigt seine Wahrnehmung der Entscheidungssituation mit allen Mitteln. Die Suche nach einem gemeinsamen Nenner bleibt aus, weil aus der eigenen Ausschnittbildung die anderen Ansichten ja unterlegen sind. Der eigene Anspruch der gleichberechtigten Berücksichtigung entwickelt sich zu der Einstellung, dass andere Meinungen doch nicht ganz so wichtig sind wie die eigene Meinung. Und weil es eben offensichtlich ist, dass andere Wahrnehmungen aus dem eingeschränkten Blick der Spezialisierung vorgetragen werden, kann man auch schnell Kritik an solchen Meinungen formulieren. In unserer Gesellschaft entwickelt sich von allen Seiten gleichzeitig ein deutlicher Herrschaftsanspruch.
Die Digitalisierung in ihrer heutigen Form leistet der Meinungsinflation einen weiteren Vorschub. Dem Anspruch, die eigene wenn auch mitunter unreflektierte Meinung ernst zu nehmen, ist mit den sozialen Netzwerken ein Medium gegeben worden. Die moderne Technik gibt uns die Möglichkeit, jede persönliche Ansicht schnell in die Breite zu tragen. Die Meinung des Einzelnen wird in Windeseile breit gestreut. Es ist natürlich auch in den sozialen Netzwerken so, dass die Meinung in den meisten Fällen weit vom Wissen um eine Situation entfernt ist. Aber egal: Erst mal alles raushauen. Früher hat es uns nicht interessiert, was irgendein „Depp“ am Stammtisch Wichtiges zu berichten weiß. Heute erreichen uns tatsächlich genau alle diese Unwichtigkeiten – und noch viel schlimmer – auch die Unrichtigkeiten. Wir werden heute jeden Tag zu jedem Thema mit sehr persönlichen Einstellungen von unzähligen Einzelpersonen beglückt. In immer kürzeren Abständen rollen Datenwellen auf uns zu, die uns wichtige Erkenntnisse bringen soll. Die Wahrheit ist, dass wir bei allen diesen Veröffentlichungen eben wenig zu einem Thema lernen. Die Einzelmeinungen können aber sehr wohl das Meinungsbild des Empfängers beeinflussen. Entweder verstärken sich die schon vorhandenen, vielleicht auch unreflektierten Meinungen. Oder man gewinnt neue, nicht sachlich fundierte Perspektiven. Die Gefahr besteht darin, dass das alles ohne jegliche inhaltliche Qualität erfolgt. Die Menge an Veröffentlichungen übernimmt die Herrschaft über die Qualität der Inhalte. Hatte nicht Heraklit gesagt, jede Sache vereint Ihre Gegensätze in sich. Bei der Information ist es aktuell die Menge an Informationen die sich gegenüber der Qualität der Informationen scheinbar durchgesetzt hat. Die freie Meinung dominiert das Wissen.
Nun gibt es Silberstreifen am Horizont, die uns aus der Sackgasse der besonders einfachen Meinungen zu einem Thema herausführen. Es gibt klare Indikatoren, die einen neuen Trend erkennen lassen. Erstens kann die Meinungsvielfalt wohl kaum noch weiter ausgebaut werden. Zweitens kann man eine starke Ermüdung in Bezug auf die überall wahrnehmbare Meinungsinflation feststellen. Drittens gibt es erste gesellschaftliche Anzeichen allzu freie Meinungen einzugrenzen. Und nicht zuletzt steht die Entwicklung zu einer Wissensgesellschaft der oberflächlichen Meinungsbildung entgegen.
Eine Steigerung der Meinungsvielfalt scheint kaum noch möglich. Wir haben Zugang zu globalen Netzwerken. Wir können uns uneingeschränkt in den sozialen Netzwerken artikulieren und in den Medien kommen bei gesellschaftlich relevanten Themen immer mehr Meinungen zu Wort. Die Medienlandschaft selbst hat an Breite zugenommen. Wir haben Zugang zu immer mehr Sendern in Funk und Fernsehen. Die Print- und Online-Medien kreieren nach wie vor neue Formate als Ergänzung zu ihren etablierten Produkten. Es bestehen wenig Zweifel, dass Meinungsvielfalt und damit einher gehende negative Folge der Meinungsinflation ein Maximum erreicht hat. Insofern wird das Pendel früher oder später von der Richtung „Menge an Information“ zu „Qualität der Information“ umschlagen müssen.
Jeder kann bei sich selbst erkennen, dass die Meinungsinflation ermüdet. Wenn wir uns z.B. in die Arenen der zahllosen Talk-Shows begeben, stellen wir schnell fest, dass es hier überhaupt nicht um eine Anreicherung von Wissen über Sachfragen geht. Es handelt sich um einen mehr oder weniger verkümmerten Meinungs-Zirkel. Nur in allergrößten Ausnahmefällen erhalten wir in dieser Form der „politischen Bildung“ neue und wichtige Informationen zu Sachfragen. Die sorgfältig ausgewählten Kontrahenten der verschiedenen politischen Lager stellen Forderungen auf und werfen der Gegenseite irgendwelche Unterlassungen oder Fehlentscheidungen der Vergangenheit vor. Wo ist da die qualitative Information für die mündigen Bürger? Sie ist nicht zu erkennen und das Format sieht das wohl auch nicht vor. Schließich geht es um eine Art der Unterhaltung. Da scheint dann auch die Selbstdarstellung der Akteure ausreichend. Zu allem Überfluß hat sich in den letzten Jahren noch die Tendenz durchgesetzt, Leute aus dem Publikum ihre Meinung kundtun zu lassen. Dabei steht wohl die Betroffenheit an erster Stelle und nicht die kritische Auseinandersetzung mit komplexen Fragen. Auch die auftretenden Experten tragen nicht immer zu neuen Inhalten bei oder erklären eine schwierige Entscheidungssituation. Sie tragen auch nur Ihren Standpunkt oder ihre Meinung aus dem Blickwinkel der Ausschnittsbildung vor. Das alles ist wirklich langweilig geworden.
Es ist sicher auch nicht vermessen, den Siegeszug der sozialen Medien als endlich zu erklären. Es fehlen sowohl der Informationsgehalt als auch die Zeit sich mit allen diesen Veröffentlichungen auseinander zu setzen. Die erste Attraktion des Neuen in der digitalen Welt weicht einer zunehmenden Langeweile über immer neue und inflationäre Botschaften. Wir sehen zu viele Unwichtigkeiten und die Meinung unserer digital vernetzen Freunde sind nach der gefühlt tausendsten Botschaft auch bekannt und bringen immer weniger Erkenntniswert. Ausserdem sehen wir uns einer Flut an Kurzmeldungen aus der Politik gegenüber, die in den meisten Fällen nicht das Attribut der Weisheit verdienen. Schnelle, unwahre und im Ton unmäßige Behauptungen bringen die gesamten neuen Medien eher in Verruf. Datenskandale und Manipulationen im Netz tun ihr übriges. Wir alle erkennen immer klarer, dass die neuen Medien nicht mit mehr Qualität von Informationen oder gar einer Anreicherung von Wissen einhergehen. So wie es mal in war, bei den neuen Medien dabei zu sein, wird es langsam modern, sich dem „Meinungsüberschuß“ zu entziehen. Die mündigen Bürger einer Wissensgesellschaft ziehen sich auf solche Quellen zurück, denen man eine kritische Auseinandersetzung mit komplexen Themen zutraut. Also raus aus Facebook, Twitter und anderen Nachrichtendiensten hin zu Quellen mit fundierten Kenntnissen und Tiefgang.
Genau die ungefilterte und freie Meinungsäußerung in den neuen und sozialen Medien hat nun auch die politische Diskussion erreicht. Einer Verbreitung von haßerfüllten Botschaften oder dem Aufruf zur Gewalt über die sozialen Medien werden vorsichtig erste kleine Riegel vorgeschoben. Die politischen Ansätze das zu tun sind zaghaft und wirken manchmal unbeholfen. Das ist aber auch nicht verwunderlich, denn die Meinungsfreiheit ist ja eines unserer Grundrechte. Gerade wenn die Ausnutzung dieses Grundrechtes andere Grundrechte wie Persönlichkeitsrechte oder das Verbot zur Anstiftung von Straftaten verletzt, gibt es keine schnellen Lösungen. Die schwierige Aufgabe besteht darin, nur die Fehlentwicklungen der Meinungsfreiheit „abzustellen“ und dabei das Grundprinzip auf jeden Fall zu erhalten. Aber ein erster Schritt in Richtung der Eingrenzung einer uneingeschränkten Meinungsfreiheit ist getan. Dies ist im übrigen ein sehr gefährlicher Ansatz. Eine Einschränkung der Meinungsfreiheit kann durchaus an Dynamik gewinnen und über das gesteckte Ziel hinaus schießen. Denken wir immer an das Bild des Pendels: Sie wie auf der einen Seite die Meinungsinflation steht, so steht auf der anderen Seite die Meinungsdeflation. In einigen Ländern um uns herum sind die Eingriffe in die Meinungsfreiheit leider schon sehr massiv zu spüren.
Wann immer etwas in solchem Überfluss wie Meinungen vorhanden ist, entsteht ein Auswahlproblem. Während es früher schwierig war an Informationen heranzukommen, ist es heute schwierig an qualitative Informationen heranzukommen. Eigentlich ein Paradoxon, wenn wir alle von einer Entwicklung zur Wissensgesellschaft ausgehen. Was muß sich also auf dem Weg zu einer Wissensgesellschaft ändern.
Zunächst muß der Zusammenhang von Meinung und Wissen verstanden werden. In einer Wissensgesellschaft ist nicht die Meinung von Bedeutung, sondern das Verstehen. In einer Gesellschaft, die Wissen fordert und unreflektierte Meinungen ablehnt wird sich diese Einstellung sukzessive auch durchsetzen. Auf diesem „Nährboden“ werden sich neue Formen des Wissens auftun.
Noch dominieren bei gesellschaftlichen Themen und der Darstellung von politischen Inhalten die verschiedenen Meinungen. Die mantraartige Kommunikation von politischen Forderungen läßt die Überlegenheit der vorgeschlagenen Alternative nicht erkennen, es sei denn sie verstärkt nur vorgefasste Meinungen. Wichtige Themen werden viel zu häufig weder in einen Zusammenhang gestellt, noch die verschiedenen inhaltlichen Aspekte dargestellt. Die Politiker haften noch an der selbstdarstellerischen Verbreitung von Meinungen, die es dem Empfänger nicht ermöglichen, sich ein Bild zu machen. Selbst wenn die Meinungen der Politiker auf einem tiefen Verständnis der Materie basieren, können die Adressaten das nicht erkennen. Dadurch kann die Politik in vielen Fällen viel zu leicht mit Populismus und Propaganda in Verbindung gebracht werden. Es ist also gar nicht der Kommunikationsinhalt, sondern die Art der öffentlichen Kommunikation, die zu einer Abwertung der Inhalte führt.
Der mündige Bürger dagegen sucht Leute, die sich komplexen Themen annehmen und durch tiefgreifende Verständnis zu Lösungen kommen und das eben auch als abwägendes Urteil kommunizieren. Die Zusammenhänge und schwierigen Entscheidungssituationen gehören in einer Wissensgesellschaft vermehrt an das Licht der Öffentlichkeit. Als aufgeklärte Gesellschaft wollen wir komplexe Sachverhalte erklärt bekommen. Die politischen Schlussfolgerungen haben ohne eine Ordnung in einen Kontext wenig Wert. Wir wollen die Meinung vom Wissen unterscheiden können.
In einer Wissensgesellschaft verstärkt sich der Wunsch aus der Meinungsinflation auszubrechen und Dinge besser zu versehen. Damit wird die Tür für einen Qualitätsjournalismus gerade weit aufgestoßen. Hatten die Medien noch vor einiger Zeit Wehklagen über Digitalisierung und kostenlose Inhalte angestimmt, scheint sich der Wind zu drehen. Noch haben wir insbesondere Fernsehinhalte, die gar keine Inhalte sind. Wir sehen Reporter, die stundenlang vor der Tür stehen, um dann einen Politiker zu einem kurzen Statement zu bewegen, das vollkommen informationslos ist. Aussagen wie „Wir arbeiten hart an einer Lösung“, oder „die Gespräche sind an einem schwierigen Punkt“ bringen niemanden weiter. Es werden keine neuen Informationen zu Sachfragen übermittelt, sondern der anstrengende Prozess der Einigung und der Suche nach einem politischen Kompromiss soll eine Botschaft wert sein. Wo ist da der Inhalt? Die Medien haben jetzt die Chance, zu alter Stärke zurück zu finden. Dazu müssen sie die gerade moderne Art der inhaltsleeren Berichterstattung ebenso aufgeben, wie das ständige ins Bild rücken von einzelnen Bürgern. Bei der heutigen Reduktion auf Verbreitung von Meinungen kann auch bei „Oma Hilde“ nur eine nicht auf Sachwissen basierte Meinung rauskommen. Lassen Sie uns aus den Talk-Shows neue Wissens-Shows zu den drängenden Fragen machen. Warum müssen eigentlich nur die Bürger in Frage-Shows wie „Wer wird Millionär“ ihr Wissen unter Beweis stellen. Machen wir das doch mal mit den Meinungsgebern über Fakten zu den diskutierten Themen. Prüfen wir doch das Wissen der Experten zu wichtigen Sachfragen ab. Lassen Sie uns wieder deutlich machen, wer überhaupt auf der Basis von Wissen eine führende Rolle einnehmen kann. Das ist der Weg zur Wissensgesellschaft und zu einer neuen gesellschaftliche Führung. Die Fragen wären ganz einfach: Was sind bei der Entscheidung A oder B die wesentlichen zu berücksichtigen Faktoren. So wird aus dem Zugang zu freien Meinungen ein freier Zugang zu Wissen.
Es gibt sichere Anzeichen, dass unsere Gesellschaft von der Meinungsinflation umschwenkt auf eine Verbreitung von Wissen. Zumindest ist das der selbst definierte Anspruch auf dem Weg zu einer Wissensgesellschaft. Für die Führung bedeutet das, dass ein tiefgründiges Verständnis von Entscheidungssituationen wieder modern wird. Anders ausgedrückt, eine Führungsrolle wird sich in einer aufgeklärten Wissensgesellschaft natürlich mit Wissen verbinden. Es ist nicht mehr zeitgemäß, eine Führungsposition auf der Basis von Macht oder Erfahrung auszufüllen. Die Geführten wollen den Mehrwert des Führers erkennen. Also erstens wo geht es hin und zweitens was ist bei der Entscheidung für den Weg zu berücksichtigen. Hier kommen dann auch die Spezialisten mit Detailwissen zu ihrem Recht, deren Einwände natürlich zu prüfen sind. Die Führer muss aber die verschiedenen eingebrachten Aspekte bewerten und auf einer wohl überlegten Abwägung der widerstreitenden Interessen eine Entscheidung auf einer abstrakteren Ebene oberhalb der Symptom-Ebene treffen. Die neue Führung stellt die Synthese vor die Analyse von Problemen. Die Tücke mag ja im Detail liegen, die neue Führung liegt da nicht. Mit diesem Anspruch an eine neue Führung kommen wir der Wissensgesellschaft näher, besiegen die Komplexität, schaffen Dynamik und überzeugen die Menschen durch übergeordnete und damit neue Aspekte.
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