Wenn mann sich die aktuelle Diskussion zur Führung anschaut, dann soll die zunehmende Dynamik und Komplexität durch eine neue Unternehmensführung unter dem Stichwort „Agilität“ beherrscht werden. Für praktisch alle Autoren und Protagonisten sind agile Management Methoden der einzige Weg, um die Zukunft zu beherrschen und positiv zu gestalten. Die Attraktivität des Ansatzes basiert aber nicht allein auf der Kreativität und Veränderungsbereitschaft der Mitarbeiter, sondern soll den Unternehmen auch einen ganz neuen Anstrich geben. Das Personalwesen ist davon überzeugt, dass mit Agilität der wichtigste Faktor für die Zufriedenheit und Bindung der Mitarbeiter in den Griff genommen wird: Fairness. Es herrscht nahezu einhellig die Meinung, dass agile Ansätze die einzige zeitgemäße Form von Fairness in den Unternehmen sind. Die Attraktivität für die Mitarbeiter ergibt sich aus dem Versprechen, grundsätzlich auf Hierarchie zu verzichten, oder, wenn es denn seien muss, nur besonders flache Hierarchien zuzulassen.
Agilität repräsentiert wichtige Werte
Nun, es ist sicher richtig, dass die Wirtschaft vor dem Hintergrund grundlegender Veränderungen auch in der Führung neue Wege gehen muss. Was gestern richtig war, muss nicht zwingend heute oder gar morgen noch richtig sein. Disruptive Veränderungen machen das in vielen Branchen sehr deutlich. Wenn die Welt also sozusagen aus den Fugen gerät, dann muss man etwas tun. Der Wettbewerb zwingt zum Handeln. Agilität ist ein Aufruf an alle, sich den Herausforderungen aktiv zu stellen. Agilität verbindet sich mit positiven Werten wie Fortschrittlichkeit, Innovationsfreude, Leistungsbereitschaft und Fairness.
Relativ fair ist sehr gut
Es muss ja heute alles mit Anglizismen belegt werden, so sprechen wir also von Fairness. Dahinter seht aber der uralte Begriff der Gerechtigkeit. Eine Kardinaltugend, die seit der Zeit der griechischen Philosophie diskutiert wird. Also was ist Sie nun, die Gerechtigkeit. Und gibt es Sie überhaupt ?
Um die Antwort gleich vorweg zu geben. Nein, die Gerechtigkeit gibt es nicht.
Es gibt nur subjektive Grerechtigkeiten
Diese Erkenntnis hatte schon der als besonders weise empfundene Sokrates. Er hat sich als erster in dialektisch geführten Gesprächen systematisch mit den Werten seiner Mitmenschen auseinandergesetzt. Bei der Suche nach der Gerechtigkeit kam er zu einem klaren Ergebnis: Alle seine Versuche, die abstrakte Gerechtigkeit zu beschreiben, schlugen fehl. Immer wieder endeten die dialektischen Auseinandersetzungen zu dem Thema in Aufzählungen von Ungerechtigkeiten. Man blieb sozusagen auf der Ebene der Beispiele hängen und schaffte es nicht, das Abstraktum, alsodieGerechtigkeit (als objektive Wahrheit) zu definieren. So bleibt nur die Erkenntnis, Fairness als subjektive Wahrnehmung anzuerkennen.
Es gibt Sie also tatsächlich nicht, die Gerechtigkeit. Zu verschieden sind die gesellschaftlichen, gruppenbezogenen oder individuellen Werte, die als Bewertungsmaßstab zugrunde gelegt werden. Auch die Gerechtigkeit in den Unternehmen wird trotz aller Bemühungen nicht von allen gleich gesehen. Was der Eine als gerecht empfindet, ist nun für den Anderen gerade besonders ungerecht. Denken Sie nur an Beförderungen. Aus der Sicht desjenigen, der nicht berücksichtigt wurde, ist es die größte Ungerechtigkeit überhaupt. Derjenige der „es geschafft hat“ sieht genau in seiner Promotion den Beweis für die Gerechtigkeit im Unternehmen.
Agilität ist ein Low-Level Konzept
Wie schon gesagt, es wird allenthalben behauptet, dass Hierarchien in unserer Zeit ausgedient haben. Diese Einstellung ist zu einem festen Bestandteil des heutigen Zeitgeistes geworden. Man löst das Problem der ungerechten Hierarchie dadurch, dass man sie sozusagen abschafft. Das hört sich doch erst einmal clever an.
Die agile und hierarchielose Organisation ist aber nicht per se gerecht, sondern nur aus einer bestimmten Perspektive. Es ist der Blickwinkel von unten. Es ist die Ansicht der jungen und engagierten Mitarbeiter, die ihre Leistung und ihre Rolle gewürdigt haben wollen. Diese Sichtweise ist befördert durch den gesellschaftlichen Trend einer immer breiteren Beteiligung an Führung. Immer mehr institutionelle und beeinflußende Gruppen nehmen Einfluß auf gesellschaftliche Entscheidungen. Insofern ist die Forderung der hierarchielosen Organisation auch der Ausfluss des aktuellen Zeitgeistes. Die implizite These ist: Breite Führung ist gute und gerechte Führung und hierarchische Führung ist langsam und ungerecht.
Die moderne Perspektive, die flache Hierarchien so erstrebenswert erscheinen läßt, ist eine besondere Ausprägung eines ausufernden Gleichheitsgrundsatzes. Die Formel lautet: Gleichheit ist Gerechtigkeit. Es wird gemeinhin festgestellt, dass der Chef nicht wertvoller als der Rest der Mannschaft ist, und innerhalb eines Teams sind sowieso alle gleich wichtig. Das macht eine Hierarchie grundsätzlich überflüssig. Das gesamte System der Über- und Unterordnung ist aus der unteren Sicht nicht mehr zeitgemäß.
Es ist durchaus nachvollziehbar, dass die Mitarbeiter auf den operativen Ebenen eine eher ablehnende Haltung zur Hierarchie haben. Mal abgesehen vom Zeitgeist. Dort wo in Teams gearbeitet wird, können unterschiedliche Rollen durchaus stören. Es geht ja um die Erfüllung gemeinsames Aufgaben, bei denen jeder seinen Beitrag leisten soll und will. Ein Team soll eine in sich homogne Gruppe sein, die sich gegenüber anderen Gruppen abgrenzt. Also ist Hierarchie im Team nur eingeschränkt nötig und sinnvoll. Insofern sind agile Organisationen auf der Arbeitsebene zunächst einmal eine faire Sache.
Unternehmen brauchen eine klare Führung
Die verschiedenen Initiativen auf den Arbeitsebenen haben tatsächlich zu positiven Stimmung und viel Dynamik geführt. Es gibt keinen Zweifel an der Motivation und Leistungsbereitschaft der Mitarbeiter in agilen Organisationen. Die Gefahr für die Unternehmen lauert an einer anderen Ecke. Es gibt doch viele Fälle, in denen „der Schub von unten“ nicht auf die notwendige Entscheidungsfreude und Flexibilität auf der Führungsebene trifft. Die Motivation der Mitarbeiter kann so ganz schnell auf Null zurück gehen. Das ist mittlerweile erkannt und erste Stimmen fordern eine Enterprise-Agility.
Wie schön wäre es doch, wenn man – wie im Mittelstand – einen Chef hat, der schnell und unkompliziert entscheidet. Doch die Konzernwelt sieht da anders aus. Langfristige Budget-Planungen, festgelegte Strategien und mentale Beharrungskräfte zeigen eine hohe Bremswirkung. Insofern ist die Forderung nach einer Enterprise-Agility im Sinne einer Einstellungsänderung und nicht einer Methode absolut richtig.
Was den großen Unternehmen im Wege steht ist, genau das, was auf der operativen Ebene gefordert wird: Teamorientierte Strukturen und ein inhärentes Konsensprinzip. Mal etwas platt gesagt: Wenn sich Führungskräfte in Meetings zusammen setzen, kann jeder seine Meinung zu einem Thema einbringen. Dazu ist es nicht einmal notwendig, ein besonders tiefes Verständnis des Problems mitzubringen. Es geht ja um die Abstimmung. Am Ende wird der Konsens gesucht, der möglichst viele Aspekte berücksichtigt und zumindest nominell keine Verlierer zeigt. Und das kann dauern. Wie oft werden Entscheidungen auf die lange Bank geschoben und gute Vorschläge nicht weiter verfolgt.
Wenn also operativ agile Strukturen auf ein konservatives, bewahrendes und komplexes Führungsteam treffen, dann geht die ganze Schubkraft verloren. Die Motivation, Leistungsbereitschaft und Zufriedenheit der Mitarbeiter geht in den Keller. Das Verhalten der Führung wird als große Ungerechtigkeit angesehen. Die Enttäuschung, dass die Leistungen des Teams nicht anerkannt werden, ist die Basis der Ungerechtigkeit. Und die Führung kann so eine Ungerechtigkeit nicht mit irgendwelchen Argumenten aus der Welt schaffen, weil Sie über das subjektive Gerechtigkeitsempfinden keine Deutungshoheit besitzt.
Insofern fordere ich für ein dynamisches Umfeld eine ebenso dynamische Führung. Genau das ist mit Enterprise-Agility gemeint. Führung muss für alle Ebenen sichtbar, eine klare Richtung vorgeben, so dass die verschiedenen Bereiche tatsächlich in eine Richtung arbeiten können. Eine klare Führung ist gerecht und wird auch von den Mitarbeitern so empfunden. Aus Sicht der agilen Teile der Belegschaft ist es vielmehr ungerecht, nicht zu führen. Beharrungstendenzen in der Führung und Umständlichkeiten im Management haben in der agilen Welt hohe Sprengkraft. Um die notwendige Dynamik zu entwickeln, bedarf es eines „Mindshift“ in der Führung und klaren Verantwortlichkeiten im Management. Das wird durchaus mit klaren hierarchischen Strukturen einher gehen. Gerade „ausgebremste“ agile Teams werden sich das wünschen.
Es ist also in den Unternehmen sicher zu stellen, dass die Tatsache, dass es einen Chef gibt, nicht grundsätzlich angezweifelt wird. Ein genereller Verzicht auf Über- und Unterordnungen ist in großen Organisationen weder realistisch noch gerecht, denn er würde jede Form der Ordnung des Ganzen negieren. Was für die operativen Teams sinnvoll sein mag, ist es für die gesamte Organisation nicht. Die Diskussion muss dahin gehen, wie verkrustete und veraltete Strukturen im Sinne einer klaren und dynamischen Führung bzw. einer Enterprise-Agility neu gestaltet werden müssen.
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